„Der Silbermann des 19. Jahrhunderts“


Am 30. August 1818 wurde Friedrich Ladegast  in Hochhermsdorf (heute Zettlitz/Ortsteil Hermsdorf) als achtes Kind des Tischlers und Röhrenmeisters Johann Christlieb Ladegast und seiner Frau Eva Rosina, geb. Dathin, geboren. Unterweisungen im Klavier- und Orgelspiel weihten den jungen Friedrich in die Grundlagen dieser Kunst ein. Die Liebe zur Musik und das beim Vater erworbene handwerkliche Können fügten sich zusammen. So äußerte er sich in seinen späteren Jahren gegenüber seinem Freund, dem Chemnitzer Organisten William Hepworth: „Ich bin, im Grunde genommen, ebenso musikalisch veranlagt wie du, nur daß Zeit und Verhältnisse mir nicht gestatten, meine diesbezüglichen Fähigkeiten auszubilden.“

Seine erste Ausbildung als Orgelbauer erhielt Friedrich in der Geringswalder Werkstatt seines Bruders Christlieb. Sein Gesellenstück steht noch heute in der Kirche zu Tanneberg, einem Ortsteil von Mittweida. In den anschließenden Jahren arbeitete er in verschiedenen Orgelbauwerkstätten Mitteldeutschlands, bei Urban Kreutzbach in Borna, Johann Gottlob Mende in Leipzig und der Werkstatt Zuberbier in Dessau. Spätere Studienreisen führten ihn u. a. nach Süddeutschland und Frankreich. Im elsässischen Straßburg studierte Ladegast nach eigener Auskunft die frühen Werke Gottfried Silbermanns.

1846 beantragte Friedrich Ladegast in der Saalestadt Weißenfels die Niederlassung als Orgelbauer und Instrumentenmacher, die Anfang 1847 genehmigt wurde. Weißenfels, unweit der großen Städte Leipzig und Halle gelegen, gehörte zu jenen mitteldeutschen Städten, die sich im Zuge der Industrialisierung rasant entwickelten. Die Eröffnung einer Eisenbahnstrecke nach Erfurt am 6. Juni 1846 brachte erhebliche Standortvorteile. Auch die Saale war zu jener Zeit noch schiffbar.

Obwohl das wirtschaftliche Umfeld vielversprechend schien, blieb die Auftragslage der Werkstatt in jenen ersten Jahren schlecht. 1849 bekam Ladegast durch die Fürsprache des Merseburger Domorganisten und Königlichen Orgelrevisors für die Preußische Provinz Sachsen, David Hermann Engel den Auftrag für eine neue Orgel in der St.-Georg-Kirche zu Geusa bei Merseburg, der die Zukunft des jungen Orgelbauers grundlegend ändern sollte. Ladegast setzte alles auf eine Karte – sein Können, eigene Mittel, eigene Visionen – und gewann. Die ursprünglich als einmanualiges Werk geplante Orgel wurde über den Vertrag hinaus – auf Ladegasts eigene Kosten – um ein zweites Manual erweitert. Bei der Abnahme der Orgel geriet Engel in „höchstes Entzücken“ über den Klang, die Auswahl des Materials und die Qualität der Ausführung – all jene Aspekte, die Ladegast schon zu Lebzeiten Ruhm brachten und seine Orgeln noch heute auszeichnen. In der Folgezeit  bekam Ladegast 1855 dann auch noch einen weiteren Auftrag für eine Orgel in Geusa im Ortsteil Blösien in der St.-Thomas-Kirche.

Neue Aufträge und damit verbundener Erfolg ließen  nicht mehr lange auf sich warten. 1850 erwarb Ladegast ein Haus in der Naumburger Straße, wo er seine Werkstatt einrichtete und in der im gleichen Jahr fünf neue Werke entstanden. Mit Ausnahme der Orgel in der Dorfkirche zu Albersroda (II/15) handelte es sich um einmanualige Werke mit 5 bis 10 Registern.

Am 3. November 1850 im Alter von 32 Jahren heiratete Friedrich Ladegast die 24-jährige Johanne Rosette Bertha Lange (* 7. Mai 1826; † 6. Januar 1902), Tochter des Weißenfelser Stadtorganisten. Das Paar hatte zwölf Kinder. Sieben der Kinder starben allerdings schon frühzeitig. Ende 1851 bekam Ladegast den Auftrag für den Neubau einer Orgel für die Stadtkirche St. Peter im 15 km entfernten Städtchen Hohenmölsen. Diese Orgel ist heute mit ihren 24 klingenden Registern sein größtes zweimanualiges Instrument, das – mit Ausnahme der Prospektpfeifen und der Windanlage – original erhalten blieb. Sie nimmt in seinem Schaffen eine besondere Stellung ein, nicht nur, weil sie der erste größere Auftrag war, sondern weil sie aufgrund ihrer klanglichen und bautechnischen Solidität eine Grundlage für die unmittelbar danach folgenden größeren Aufträge in Merseburg, Schulpforta und Leipzig bildete.

Als 1853 die Merseburger Domorgel zum wiederholten Male repariert werden musste, kam für den Domorganisten Engel kein anderer Meister als Ladegast für diese Aufgabe in Frage. Aus der geplanten Reparatur für 4.500 Taler wurde allerdings ein Neubau für 6.258 Taler. Unter Beibehaltung des Gehäuses der alten Orgel sowie von 26 ihrer Register, die später ebenfalls durch neue ersetzt wurden, errichtete Ladegast ein Werk mit 81 Registern, verteilt auf 4 Manuale und Pedal, über das bereits während des Baus gesagt wurde, „daß dieses Orgelwerk einen neuen Abschnitt in der Orgelbaukunst bezeichne, indem hier Dinge erreicht worden sind, die bisher an keiner anderen Orgel vorkommen“. Die Einweihung fand am 26. September 1855 statt. Diese im damaligen Deutschland größte Orgel brachte Ladegast viel Anerkennung und Ruhm und erhob ihn  in die Reihe der großen Orgelbauer seiner Zeit. Die Orgel inspirierte  Franz Liszt zu einigen seiner großen Orgelwerke. Seine „Prophetenfantasie“ über den Choral „Ad nos, ad salutarem undam“ erklang am 26. September 1855 zur Einweihung, am 13. Mai 1856 wurde Präludium und Fuge über BACH in seinem Beisein in Merseburg uraufgeführt.

Auf einer Studienreise nach Paris lernte Ladegast die Orgeln des großen französischen Orgelbauers Aristide Cavaillé-Coll kennen. Albert Schweitzer schreibt dazu: „Der grosse französische Orgelbauer Aristide Cavaillé-Coll hat ihn [F. Ladegast] als den besten unter den zeitgenössischen Orgelbauern der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geschätzt. Ich habe Cavaillé-Coll noch gekannt und kann bestätigen, daß er von Ladegast mit Bewunderung sprach.“

Bis zu seinem nächsten großen Auftrag, der Orgel für die Leipziger Nikolaikirche (IV/84), die 1862 als damals größte Orgel Sachsens vollendet wurde, entstanden weitere 16 Instrumente.1864 baute Ladegast im Auftrag des Magistrats der Stadt Weißenfels für die Stadtkirche St. Marien seine zweite dreimanualige Orgel (41 Register), die heute, allerdings stark verändert, sein ältestes erhaltenes dreimanualiges Werk ist. Diese Orgel wurde zugleich sein Referenz-Instrument, an der er potentielle Käufer empfangen konnte. Ebenfalls 1864 entstand die dritte dreimanualige Orgel Ladegasts – ein Werk mit 39 Registern für die Schloßkirche zu Wittenberg.

Die neuen Aufträge für große Instrumente verlangten eine größere Werkstatt. So beantragte Ladegast 1865 eine Genehmigung für den Bau einer neuen Werkstatt in der Naumburger Straße. Damit wurde ein Raum geschaffen, in dem später sogar die Orgel für den Schweriner Dom Platz fand. Der Bau dieser Orgel mit 84 Registern verteilt auf vier Manuale und Pedal im Jahre 1871  hatte für Ladegast bahnbrechende Bedeutung, er stieg endgültig in die Reihe der international bedeutenden Orgelbauer auf. Am 10. November 1871 erhielt Ladegast für den Orgelbau von Schwerin das durch den Herzog von Mecklenburg-Schwerin verliehene Verdienstkreuz in Gold – den Hausorden der Wendischen Krone.  1872 erbaute Ladegast für die St. Jakobskirche in Köthen die bis heute größte Orgel in Anhalt. Im selben Jahr erhielt er den Auftrag, die Orgel für den Großen Saal des Wiener Musikvereins zu bauen. Deren Gehäuse wurde von Architekt Theophil von Hansen entworfen. Die Orgel hatte 52 Register, verteilt auf drei Manuale und Pedal, wobei er mechanische Schleifladen für die Manualwerke und Kegelladen für das Pedalwerk verwendete. Anton Bruckner wirkte beim eröffnenden Konzert an dieser Orgel mit. 1907 wurde diese Orgel allerdings durch ein neues Instrument ersetzt.

Der generelle Wandel vom Handwerksbetrieb zur Fabrik als Hauptmerkmal der industriellen Entwicklung, ausgelöst durch die Erfindung der Dampfmaschine, brachte auch im Orgelbau tiefgreifende Veränderungen hervor. Das mit der industriellen Revolution verbundene Wachstum der Städte verlangte nach neuen Kirchen und Orgeln. Außerdem wurden viele als nicht mehr zeitgemäß empfundene Instrumente ersetzt. Diesen erhöhten Bedarf konnte die traditionelle handwerkliche Fertigung nicht mehr im vollen Umfang befriedigen. Die existentielle Sicherung vieler Betriebe hing nicht mehr nur von der Qualität ihrer Arbeit, sondern zunehmend von ihrer Fähigkeit ab, die Produktionsmenge zu steigern und die Preise niedrig zu halten. Diesen enormen Anforderungen waren nur größere Unternehmen gewachsen.

Um 1840 wurde durch die Firma E. F. Walcker & Cie., Ludwigsburg, die erste Kegelladen-Orgel erbaut. Dieses neue Windladensystem führte wie keine andere Erfindung im Orgelbau zu Spaltungen und Streit. Von einigen begeistert aufgenommen, von anderen verpönt, zeichnete es den Weg des Orgelbaus jener Zeit auf. Keine namhafte Orgelwerkstatt kam an der Kegellade vorbei. Während einige Firmen wie Walcker und Sauer eine vollständige Umstellung auf dieses Windladensystem vollzogen, kehrten andere nach einigen Versuchen mit der Kegellade zur Schleiflade zurück oder benutzten beide Systeme gleichzeitig. Zu Letzteren gehörte auch die Werkstatt Ladegasts. Er selbst äußerte sich zum Verwenden beider Systeme so: „Ich wende faktisch alle Systeme an, mitunter in einer Orgel verschiedene, jedes da, wo es mir passend erscheint.“ Trotzdem blieb er sein Leben lang überzeugter Anhänger der Schleiflade. Am 13. Januar 1880 richtete er an den damaligen Generalsekretär der Wiener Gesellschaft der Musikfreunde, Leopold Alexander Zellner, die schon sprichwörtlich gewordenen Zeilen:

„[…] Von den im vergangenen Jahre gelieferten Werken waren zwei mit Kegelladen. In vieler Beziehung sind dieselben leichter herzustellen als Schleifladen (Doch ganz unter der Hand gesagt!) Das Schleifladensystem wird von den Kegeln nicht verdrängt werden. Da jedoch fast alles Kegeltoll ist, so hilfts nichts, man muß – mit heulen!“

Erst Ende der 1880er Jahre wandte sich die Werkstatt in Weißenfels  intensiver der Pneumatik zu. Da jedoch spätestens 1890 fast alle namhaften Orgelbaufirmen vollständig zum Bau der Röhrenpneumatik übergegangen waren und bereits über eigene ausgereifte Systeme verfügten, blieb die traditionelle Werkstatt aus Weißenfels einer harten Konkurrenz ausgesetzt. Nach und nach wurde das einst berühmte Unternehmen vom Markt verdrängt. Die Großaufträge blieben anderen Firmen, die nun die als modern geltenden Orgeln bauten, vorbehalten. Eng verbunden mit der technischen Weiterentwicklung im Orgelbau war zudem auch die Wandlung der Klangästhetik der Orgel zum spätromantischen orchestralen Stil. Bedingt durch die Klangvorstellungen Ladegasts, welche zu Anfang der 1890er Jahre als zu geradlinig und veraltet galten, waren seine Werke auch in dieser Hinsicht zunehmend weniger konkurrenzfähig.

Nach dem Tod seiner Frau 1892 zog sich Friedrich Ladegast mehr und mehr aus der Öffentlichkeit zurück. An der Leitung der Firma bis dahin noch beteiligt, übergab er 1898 diese endgültig seinem Sohn Oskar Ladegast (1858 - 1944).

Friedrich Ladegast starb am 30. Juni 1905. Der Tod des Meisters wurde in der Öffentlichkeit mit großem Respekt zur Kenntnis genommen. Bereits am 3. August 1905 erschien im Weißenfelser Tageblatt folgende Mitteilung des Stadtmagistrats: „Eine Ehrung des Altmeisters der Orgelbaukunst Friedrich Ladegast, der vor kurzem gestorben ist, hat der Magistrat dadurch vollzogen, daß er der Verbindungsstraße zwischen der Beuditz- und Gustav-Adolfstraße den Namen ‚Ladegaststraße‘ beigelegt hat.“

Die Bedeutung dieses herausragenden Meisters der deutschen Orgelbaukunst lässt sich am besten mit den Worten Albert Schweitzers an den damaligen Merseburger Domorganisten Hans-Günther Wauer erfassen, der in einem Brief aus Lambarene von 1958 über Ladegast schrieb:

„Ich halte Friedrich Ladegast für den bedeutendsten Orgelbauer nach Silbermann, dessen Tradition er fortsetzt. Sowohl in technischer wie auch in klanglicher Hinsicht sind seine Schöpfungen in gewisser Hinsicht einzigartig. Ich selber war ergriffen von der Spielart und der Tonschönheit der Ladegast-Orgeln, die ich unter die Finger bekam und habe Organisten, die ihre Ladegast-Orgeln umbauen und modernisieren wollten, zu Beginn unseres Jahrhunderts, von dieser Sünde abgeraten. In Tonqualität stelle ich Ladegast-Orgeln sogar über die von Cavaillé-Coll.“

Michael Schönheit, Quelle: Wikipedia